Es ist nicht deine Aufgabe, dich selbst zurückzunehmen, nur um andere nicht zu verletzen.
Ich folge einigen Accounts auf Instagram, die hauptsächlich mit Ratschlägen zur mentalen Gesundheit, Selbstfürsorge und dergleichen auftreten.
Grundsätzlich finde ich es gut, wenn wir uns gegenseitig Mut zusprechen und uns immer wieder daran erinnern, dass wir alle nur Menschen sind. Keine von uns kann die Welt alleine retten und niemand ist für alles zuständig.
Aber ich sehe in diesen hübschen Grafiken mit ihren zum Teil recht knackigen Ansagen auch eine große Gefahr.
Sprüche ersetzen keine Therapie
Sie richten sich ja in erster Linie an Personen, die mit ihrer psychischen Gesundheit zu kämpfen haben oder nicht in der Lage sind, sich gut um ihre Bedürfnisse zu kümmern und sinnvolle Grenzen zu setzen.
Doch kann ich das besser, wenn ich ein paar tolle Posts lese?
Helfen mir da Sprüche wie: „Du bist gut genug!“ oder „Es ist in Ordnung, auch einmal nichts zu tun!“?
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Jein.
Sie können eine Erinnerung sein, wenn ich gerade neue Gewohnheiten etablieren will.
Aber um tiefsitzende Probleme aufzulösen, und einen Weg zu finden, der mir und meinem Umfeld gut tut, dazu sind ein paar nette Sätze zu wenig.
Diese Zitate ändern nicht die Wertesysteme und Glaubenssätze.
Das gelingt nur, wenn man lernt, die Ursprünge dieses Verhaltens zu identifizieren und sich klar zu machen, welche neuen Lösungen man einüben könnte.
Dafür braucht es professionelle Unterstützung, die auf meine individuellen Probleme und Lebenssituation eingeht. Die auch einen Rahmen setzt, damit ich nicht von einem Extrem ins andere falle.
Ich wusste im Grunde immer, was ich falsch mache und warum ich ständig überfordert und erschöpft bin.
Aber es hat zwei Jahre Therapie gebraucht, um zu erkennen, wo genau ich über meine Grenzen gehe und was die Auslöser dafür sind.
Meine Therapeutin hat mich bestärkt, andere Vorgehensweisen auszuprobieren und auch dabei zu bleiben. Es fühlt sich alles neu an und dadurch auch irgendwie falsch.
Dann ist es hilfreich, wenn man von einer erfahrenen, unbeteiligten Person dadurch geführt wird.
Ich habe so manche Stunde damit verbracht, meine Gedankenknäuel zu entwirren und eine Lösung für das jeweilige Problem zu finden.
Hier kann man nicht den gordischen Knoten mit einem knackigen Spruch zerschneiden. Da ist leider langwierige und komplizierte Kleinarbeit gefragt.
Du orientierst dich an deinem Instagramfeed
Das zweite Problem an diesen Sprüchen: Sie kommen wieder von außen.
Eine sehr unsichere Person, die anderen gefallen will, sucht sich jetzt eben eine andere äußere Bestätigung. Wieder wird sie nur tun, was die anderen von ihr verlangen. Und damit sind wir beim Spruch oben.
Es ist nicht deine Aufgabe, dich selbst zurückzunehmen, nur um andere nicht zu verletzen.
Nehmen wir an, deine Kollegin liest diesen Spruch und nimmt ihn sich zu Herzen. Wird euer Verhältnis dadurch wirklich besser?
Wenn sie ab sofort keine Rücksicht mehr auf dich nimmt?
Weil das genau das ist, was dieser Spruch bedeutet: Keine Rücksicht auf die Verletzungen der andern nehmen.
Kurzfristig ist das natürlich entlastend.
Aber selbst wenn du ein Mensch bist, der viel einstecken kann und mehr Verständnis für andere hat, irgendwann musst du dich auch schützen.
Und dann setzt du die Grenze. Die Kollegin muss sich dann zwar immer noch nicht selbst zurücknehmen. Aber sie wird zurückgestoßen. Ob das dann wirklich hilfreich für ihre psychische Gesundheit ist?
Besonders dumm ist es dann, wenn sie überhaupt nicht der Typ für so ein Verhalten ist, sondern eben meint, sie müsste sich jetzt so verhalten, weil es ihr Instagram-Feed ja dauernd propagiert.
Dann steht ihr beide vor einem Scherbenhaufen, ohne dass irgendwer etwas davon hatte.
Freifahrtschein für Egoisten
Der zweite Personenkreis, der diese Sprüche mit Begeisterung liest, sind die Egoisten.
Menschen, die sowieso schon Problem damit haben, die Bedürfnisse anderer zu beachten.
Wenn mehr über Egoisten und soziales Verhalten wissen willst, empfehle ich »Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein.«
Für sie ist der Spruch oben ein Freibrief, ihre Wünsche und Launen ohne Rücksicht auf andere durchzuziehen.
In diese Richtung gehen auch die Ratschläge, sich von toxischen Personen fernzuhalten.
Nach manchen Definitionen, die man so im Netz liest, sind alle Personen toxisch, die dich erschöpft oder verärgert hinterlassen.
Auch hier wird wieder die Wanne mit dem Kind ausgeschüttet.
Es gibt Beziehungen, die einem nicht guttun und bei denen man keinen Grund hat, sich noch länger mit der Person auseinanderzusetzen. Dazu kann auch der langjährige Partner oder die Firma zählen.
Hier ist es immer sinnvoll, sich zu überlegen, ob man seine Energie nicht besser an einer Stelle einsetzt, die der eigenen Gesundheit zuträglicher ist.
Aber was mache ich mit der besten Freundin, die gerade eine schreckliche Zeit durchmacht und mich das jedes Mal runterzieht, wenn wir Kontakt haben? Soll ich die Beziehung jetzt beenden, nur damit ich weniger Stress habe?
Wäre auch hier nicht eher genau hinsehen und hin fühlen wichtig? Zu sehen, wie weit kann ich ihr wirklich helfen und wo muss ich auf mich achten?
Man muss ja auch nicht alles 100% machen. Wenn ich nach dem Telefonat ein paar Minuten ruhig durchatme und innerlich Abstand gewinne, dann kann ich mein Leben wieder aufnehmen, ohne dass ich durch das Schicksal der anderen belastet bin.
Oder ich kann ihr helfen, sich andere Ansprechpartner oder vielleicht sogar professionelle Unterstützung zu suchen.
Außerdem ist es wichtig, genau zu schauen, was sie eigentlich gerade braucht. Wir suchen immer sofort nach Lösungen und Handlungen, wenn einfach nur da sein völlig ausreichend wäre.
Viele unserer „toxischen“ Beziehungen sind nur für eine Weile in Schieflage. Nicht alles ist immer eitel Sonnenschein. Sich da durchzukämpfen, kann auch für die eigene Psyche stärkend sein.
Wo die eigene Befindlichkeit hinten anstehen muss, ist bei Menschen, die auf uns angewiesen sind.
Jedes Baby ist nach der Definition oben eine toxische Person. Durchwachte Nächte und ständiger Lärm sind definitiv belastend.
Sich hier Unterstützung und Entlastung zu suchen, ist auf jeden Fall wichtig.
Das gilt auch für pflegebedürftige Angehörige oder chronisch kranke Partner.
So eine Situation bedeutet nicht, dass man sein ganzes Leben und seine Gesundheit opfern muss. Aber es heißt eben doch, dass man nicht jeden Tag entspannt sein Leben selbst gestalten kann, sondern sich nach den Bedürfnissen des anderen richtet.
Das Leben ist kompliziert, aber du musst es nicht alleine meistern.
Den Fokus weg von sich selbst auf die anderen zu richten, gibt dem eigenen Leben Sinn und Bedeutung.
Die eigene Gesundheit, und die eigenen Werte und Bedürfnisse, nicht aus den Augen zu verlieren, ist die Kunst dabei.
Eine kleine Erinnerung von Zeit zu Zeit ist dann in Ordnung.
Aber lassen wir uns nicht von der Sprücheflut da draußen irre machen, sondern schauen genau hin.
Dann erkennen wir, was wir beitragen können, und wann wir eine Pause für uns selbst brauchen.
Wir sehen die anderen dann als Verbündete, nicht als weiteres Problem.
Das gelingt aber nur, wenn wir das Handy aus der Hand legen und uns mit unseren Herausforderungen in Ruhe auseinandersetzen.
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