Warum die Heldenreise problematisch ist

Warum die Plotstruktur der Heldenreise schwierig ist

Die Heldenreise ist eine der am meisten verbreiteten Plotstrukturen.

Geschichten aus allen Kulturen basieren auf dieser Erzählweise.

Doch ist sie deshalb auch etwas, was wir unbesehen weiterführen sollen?
Um diese Frage zu beantworten, klären wir erst einmal, was man unter diesem Begriff versteht.
Die Heldenreise gibt es in zwei Kontexten. Zum einen dem Literarischen, zum anderen dem Psychologischen. Bisweilen findet sich das auch im Marketing, Stichwort »Storytelling«.

Beginnen wir mit der Plotstruktur, also der Verwendung in Geschichten.

Die Heldenreise in der Literatur

Kurz gefasst geht es bei der Heldenreise nach Joseph Campbell und Christopher Vogler um einen Protagonisten, der in seinem alltäglichen Leben angetroffen wird. Er wird vom Schicksal herausgefordert, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Er weigert sich zunächst, im Verlauf der Geschichte überwindet er sich und macht sich auf die Reise. Er hat verschiedene Hindernisse zu meistern, ist aber am Ende siegreich. Während dieser Expedition gewinnt er neue Fähigkeiten und Erkenntnisse, die ihn zum einen befähigen, die eigentliche Aufgabe zu erledigen, die er jedoch auch in seinem alltäglichen Leben einsetzen kann, zu dem er dann verwandelt wieder zurückkehrt.
Eine sehr schöne Beschreibung dieser Plotmethode findest du bei Katharina Glück.

Auf dieser Grundstruktur beruhen nicht nur alte Mythen, sondern auch unsere Blockbuster und Bestseller.

Die Heldenreise in der Psychologie

Und weil der Held nicht nur eine äußere Schlacht schlagen muss, sondern auch eine innere, bietet sich dieses Modell für psychologische Ansätze an.
Hier wird, ausgehend von einem unbefriedigenden momentanen Zustand, die Heldenreise genutzt, der betroffenen Person einen Entwicklungsweg aufzuzeigen. Sie kann ihre Probleme überwinden und erkennt, wo sie Mentoren und hilfreiche Ressourcen findet.
Am Ende hat sie das „Elixier“ gefunden, mit dem sie ihr Leben erfolgreich meistern oder wenn nötig, verändern kann.
Als Beispiel sei hier der Verein für freie Psychotherapie genannt.

Vorteile des Konzepts

In beiden Bereichen geht es also immer darum, dass der Held oder die Heldin über sich hinauswächst und neue Fähigkeiten erwirbt, um eine Aufgabe zu lösen, für die sie sich vorher weder zuständig noch befähigt gefunden hat.

Die Autorin hat einen Rahmen für eine Geschichte mit passendem Spannungsbogen, der sich über Jahrtausende bewährt hat. Und eben weil das so ein bekanntes System ist, lässt es sich auch gut auf die Psychologie übertragen, in der ebenfalls durch eine Neubewertung der Situation und der Fähigkeiten des behandelten Menschen eine Heilung erreicht werden soll. Denn in der Therapie kommt der Anstoß meist von außen, von einer Lage, die mit den vorhandenen Methoden nicht mehr zu bewältigen ist.

Außerhalb des therapeutischen Bereichs hat die Heldengeschichte unter Umständen ebenfalls einen positiven Effekt. Für eine Person in einer schwierigen Lage kann der Held, der über sich hinauswächst, ein Vorbild sein. Sie ist durch den bekannten Plot auch auf die zu erwartenden Widerstände vorbereitet und findet den Mut, sich aus ihrer vertrauten, aber problematischen Situation aufzumachen in unbekanntes Terrain und letztlich ihr Glück oder ihren Platz in der Welt zu finden.

Warum das Konzept gefährlich ist

Die Heldenreise sieht doch ganz gut aus. Wo ist das Problem?
Gerade wenn wir von der Vorbildfunktion sprechen, müssen wir uns überlegen, ob wir wirklich mit einzelnen Helden in unserer komplexen Welt weiterkommen. Oder ob es nicht einen ganz anderen Ansatz braucht. Schauen wir uns das genauer an:

Individualismus statt Gemeinschaft und Gesellschaft.

Der Held hat zwar meistens eine Gruppe von Gefährten, er trifft auf seinen Mentor. Aber Dreh- und Angelpunkt sind seine Handlungen und Entscheidungen. An seiner persönlichen Entfaltung hängt das Ergebnis der Quest.

Dass sich auch ein System entwickeln und verändern kann, kommt in dieser Vorstellung nicht vor.

Natürlich ist es schwierig, im Rahmen eines Romans oder Films eine solche Entwicklung spannend darzustellen.

Aber wir leben immer in Systemen.

Unser Körper ist ein System aus Zellen und aus gutem Grund bekämpfen wir den individuellen Ausbruch einzelner Zellen mit Krebsmedikamenten. Unsere Umwelt ist ein System.

Diese Tatsache vergessen wir immer wieder, wenn wir versuchen, einzelne Bereich auszudehnen und für uns nutzbar zu machen. Der größte Teil der Umweltprobleme, sei es die Klimakrise oder das Artensterben, lässt sich auf diese Diskrepanz zurückführen.

Und auch unsere Gesellschaft erzählt sich ihre Geschichte zwar in den kühnen Taten von einsamen Herrschern und sonstigen Helden. Aber bei genauer Ansicht waren es graduelle Verschiebungen im System, die dann zu spektakulären Momenten geführt haben, in denen die Helden glänzen konnten.

Kein Herrscher, der jahrzehntelang einem friedlichen Volk vorstand, hat es in die Geschichtsbücher geschafft. Nur wenn in seiner Zeit große Erfindungen oder Bauwerke entstanden, tauchte er aus der trockenen Namensliste auf.

Man denke an die Erfinder, deren Zeit noch nicht gekommen war. Auch sie konnten erst glänzen, wenn das System um sie herum die jeweilige Idee schließlich aufnehmen konnte.

Abgesehen davon, niemand erfindet im luftleeren Raum. Immer existierten Vorarbeiten und Mithelfende, die nur oft nicht genannt werden. Wir suchen also die Lösungen in der einzelnen Person, statt mit Verbesserung oder Erneuerung der Systeme für bestehende Probleme zu reagieren.

Der Protagonist besiegt den Bösen.

Selbst wenn er die Menschheit vor einem Meteoriten bewahrt, immer geht es um Kampf und der Macht über andere. Die Motive der Gegenseite sind nur insofern relevant, als der Held sie kennen muss, um die passende Gegenstrategie zu entwickeln.

Natürlich muss sich der Held überwinden und ein anderer werden.

Aber was, wenn er Teil des Problems ist? Wenn sein Lebensstil und seine Entscheidungen, zusammen mit denen seines Umfeldes, das Problem sind? Wenn es nichts zu kämpfen gibt, statt dessen in mühsamer Befreiung von Gewohnheiten und falschen Mindsets eine neue Welt geschaffen werden muss? Wenn dieser Umbau nicht mit ein paar heldenhaften Maßnahmen erledigt ist, sondern immer wieder an die Gegebenheiten angepasst werden muss, so wie es die Natur uns vormacht?

Vielleicht sind wir so schlecht darin, uns gut funktionierende Systeme zu schaffen und mit unserer Umwelt anständig umzugehen: Weil wir nur den Kampf kennen. Das Besiegen.

„der“ Held

Wer meine Artikel kennt, weiß, dass ich eigentlich sehr darauf achte, eine genderneutrale Schreibweise durchzuziehen. Und doch liest du immer nur „der Held.“

Warum das so ist? Weil es eben der Realität entspricht. Meistens ist der Held ein weißer cis hetero Mann.

Natürlich gibt es Heldinnen, es gibt in den anderen Kulturen Helden aus dieser Ethnie.

Aber genau das ist das Thema. Unter Held stellen wir uns jemanden vor, der bestimmte Kriterien erfüllt.

Fällt die Hauptfigur aus diesem Raster, so wird das in und um die Geschichte deutlich hervorgehoben. Und trotzdem verhält sich Wonder Woman auch nicht anders als ihre männlichen Pendants, ist also eigentlich keine Ausnahme von dieser Regel.

Was aber bedeutet: Es ist schwer, sich als Mensch, der nicht in dieses Schema passt, mitgenommen zu fühlen.

Viele Leute wären auch nach dem lautesten Ruf zum Abenteuer zu vorsichtig oder schüchtern, um sich dem zu stellen. Aber sie hätten abseits dieser Bilder durchaus das Potential, einen deutlichen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten.

Es wird sich heldenhaft in die Schlacht geworfen.

Die Reise ist eben eine Reise.

In den Geschichten gibt es immer die eine Aufgabe, die im Laufe des Plots gelöst werden muss. Dazu verlässt der Held seine gewohnte Umgebung und verwandelt sich. Sei es, weil er sich tatsächlich auf den Weg macht oder auch nur in eine andere Welt eintaucht.

Wir müssen alle die Komfortzone verlassen, um uns weiter zu entwickeln. In jungen Jahren ziehen wir von zu Hause aus, wir wechseln von der Schule in den Beruf.

Aber eben eher keine konkrete Aufgabe. Sondern ein neues System, in dem wir uns einfinden müssen und an das wir uns ein Stück weit anpassen. Dafür, endlich von zu Hause auszuziehen oder sich scheiden zu lassen, kann man natürlich die Heldenreise als Anleitung verwenden. Aber der Unterschied ist, dass es zum einen kein Zurück nach Hause mehr gibt.

Man kommt von dieser Reise nicht zurück, sondern ist aufgebrochen in ein neues Leben.

Ein weiteres Beispiel: Eine junge Frau schließt sich einer Organisation zur Rettung einer Tierart an. Sie reist in den Lebensraum des Tieres, baut dort etwas auf. Die Mission ist erfolgreich und sie kehrt zurück. In diesem Fall passt die Heldenreise vermutlich super. Aber um das Aussterben vor der eigenen Haustüre zu beenden, was genauso wichtig wäre, ist keine Reise nötig.

Kameraden sind keine Heldinnen

Alle Kameraden, die auch dabei sind, sind eben nicht der Held.

(Ausnahme: Marvels Superhelden, aber die sind meiner Meinung nach ein eigenes Thema).

Die anderen haben gar nicht die Möglichkeit, der Protagonist zu sein.

Die Geschichte dreht sich um die eine Person, die die Welt rettet. Es heißt ja nicht Hogwarts und der Stein der Weisen. Sondern eben Harry Potter.

Auch wenn sich der Held standardmäßig Gefährten sucht: Nicht seine Integration in diese Gruppe ist der Kern der Geschichte.

Genauso wenig entsteht daraus ein System, eine Bewegung, die über die einzelnen Personen hinaus etwas bewirkt.

Es mag im Finale eine bessere Welt entstanden sein, aber diese ist mehr Umwelt des Helden als eigenständige Akteurin.

Die Gefährten sind austauschbar, was sie abwertet. Am Ende gibt es wieder nur eine kleine Elite an Helden, die die armen Normalos retten müssen.

Der Gedanke, dass sich diese Nichthelden organisieren und dadurch das Problem lösen, darf nicht aufkommen.

Weil wozu bräuchte es dann den einen, auserwählten, der sich all der Mühen unterzieht?
Oder wie Ronja Wurmb-Seibel es ausdrückt:


»Das Modell der Heldenreise wird Geschichten von gesellschaftlichem Fortschritt nicht gerecht, weil der fast immer das Ergebnis von vielen Leuten, die viele Schritte gehen und irgendwann gemeinsam etwas erreichen. Dass einer einzelnen Person diese Art von Durchbruch gelingt, ist die absolute Ausnahme, auch wenn es uns schwerfällt, das zu glauben. Wo es doch überall um uns herum von Held*innen nur so wimmelt.«

wie wir die Welt sehen S. 54.

Es gibt immer einen (Personifizierten) Antagonisten.

Deshalb werden immer Schuldige gesucht, auch wenn wir das oft selbst sind.

Der Held muss seine inneren Hürden überwinden, um gegen das Böse zu kämpfen. Und dieses Böse kann klar benannt werden.

Egal, was der Grundkonflikt ist, ob es sich um ein Umweltschutzdrama handelt oder ob die Welt vor einem Kometen gerettet werden muss: Es gibt Figuren, die sich dem Helden in den Weg stellen.

Dieses Suchen nach einem menschlichen, allein verantwortlichen Feind ist gefährlich.
Es lädt ein, Sündenböcke zu definieren. Das sind immer machtlose, meist sowieso schon diskriminierte Gruppen.

Die Energie der Kämpfenden wird damit umgeleitet und die eigentliche Problematik gerät ins Hintertreffen.

Das Leben ist keine Schatzsuche

In der wahren Welt gibt es eben nicht die eine, endgültige und perfekte Lösung, die der Held erkämpfen kann.

Wir haben es mit einem komplexen System zu tun, bei dem man, dreht man an einer Schraube, Wirkungen an ungeahnten Stellen erlebt.

Daher kann Problemlösung nur darin bestehen, alle Akteure zusammenzubringen und in mühevoller Kleinarbeit und mit Versuch und Irrtum eine Lösung zu finden, die zumindest im Moment die Gefahr bannt und bei der möglichst viele profitieren können.


Woher sollte der einsame Held von den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Gruppen wissen, die ihm fremd sind, aber in dem System ebenfalls eine Rolle spielen?
Wir alle haben schon erlebt, dass wir in einer Gruppe eine Lösung vorgestellt haben, die wir im stillen Kämmerlein (oder am Stammtisch) für die genialste Idee seit langem gehalten haben. Nur um dann festzustellen, welche Gesichtspunkte wir nicht bedacht oder gar nicht gekannt haben.

Gute Lösungen sind weder einfach noch ewig.

Das ist zwar das, was wir uns alle wünschen. Aber so wie wir selbst, ist unsere Gesellschaft und unsere Natur ein lebendes System, dass sich ständig neu anpassen muss, um zu überleben.

Lösungen zu finden, ist eben kein Kampf gegen einen mächtigen Bösen, der nur vernichtet werden muss, und dann ist alles (wieder) gut.

Der weise Mentor.

In die gleiche Richtung geht das nächste Problem der Heldengeschichte:

Der Mentor.

Hier wird suggeriert, dass der Held nur eine Person braucht, die ihm die nötigen Informationen gibt, damit er sich der Herausforderung stellen kann.
Nur, woher weiß der Mentor das alles? Warum soll es jemanden geben, der alles überblickt?
Natürlich haben Mentoren und Lehrende als solches eine Berechtigung. Wir können uns nicht alles selbst beibringen und haben nur eine Perspektive, nämlich unsere eigene.
Jemand, der uns auf unserem Weg voraus ist, kann uns gute Ratschläge geben. Dennoch finde ich das gefährlich. Wir neigen dann dazu, die eine Person zu suchen, der uns anleitet, statt mit anderen in der Gruppe nach Lösungen zu fahnden, die es eben noch nicht gibt.
Der Input, mit dem wir uns auf die Reise begeben, sollte vielfältig sein. Wir müssen aus vielen Perspektiven auf das Problem blicken, damit wir alle Facetten erkennen können.

Ein Mentor kann hier unterstützen. Aber es muss immer klar sein, dass auch er nur einen kleinen Ausschnitt des ganzen sieht. Er hat höchsten gelernt, wie er mit dieser Vielfalt umgehen kann.

Welche Geschichte wollen wir dann erzählen?

Überall wird die Heldengeschichte als Muster für erfolgreiches Erzählen verkauft. Nicht nur Romane sollen so gestrickt werden.

Auch die eigene Geschichte, die eigene Marke erstrahlt, wenn sie in eine Heldenreise verpackt wird.
Doch wollen wir das wirklich? Das millionste Mal hören, wie der oder die Auserwählte (oder die Betreiberin dieses Blogs) dem Ruf nach dem Abenteuer gefolgt ist?
Oder wäre nicht eine andere Geschichte, eine andere Perspektive hilfreicher?
Warum finden wir keine gedeihlichen Visionen darin, wie sich die Natur entwickelt?

Wie sich das Leben an veränderte Umweltbedingungen anpasst und neue Formen hervorbringt?
Wir zerstören die Biodiversität, weil wir nicht begreifen, was dort passiert.

Es gab nie eine Geschichte, wie diese reichhaltige Vielfalt entstanden ist. In den Schöpfungsmythen wird alles als bereits definiert vorausgesetzt. Der allmächtige Erschaffer hat einen Plan, und nach dem wird eins nach dem anderen in die Welt gesetzt.
Der lange Prozess der Evolution, der nie zu einem Ende kommt, wird komplett außen vor gelassen.


Alle Bewegungen, alle Vereine und sonstigen Allianzen entstanden nicht durch einen Masterplan. Nie kam ein Held und hat sich auf den Weg gemacht, das Böse zu besiegen und dazu einen Klub zu gründen.

Wer jemals einen Verein gegründet hat, weiß, dass das kein Abenteuer ist, sondern viele Gesprächsrunden braucht, bis das Ganze funktioniert.


Selbst eine Person wie Greta Thunberg hat zwar mit ihren Streiks eine Bewegung ausgelöst. Aber auch sie ist keine klassische Heldin.
Sie hat ihre Aufgabe gesehen und zieht das durch. Durch ihr Vorbild hat sie anderen gezeigt, wo man anfangen kann.

Den Kampf gegen die Klimakatastrophe wird aber keine einzelne Heldin gewinnen. Den müssen wir gemeinsam, Tag für Tag, mühsam und völlig unspektakulär ausfechten.


Wir brauchen also neue Geschichten, die uns leiten und Mut machen.

Keine Geschichte, dafür aber 30 Seiten Tipps gegen die Flut an Katastrophennachrichten.
Mein Ratgeber: Informieren, ohne zu verzweifeln.

, ,
Cookie Consent mit Real Cookie Banner