Kurzgeschichte „Aug‘ um Aug‘, Zahn um Zahn“

Weil ich im Urlaub meinen Roman nicht zum Überarbeiten dabei hatte, gibt es jetzt eine kleine Kurzgeschichte für dich. Wie der Titel schon andeutet, ist sie etwas makaber und für alle, die sich von Gewalt getriggert fühlen, eher nicht geeignet.

Kurzgeschichte "Aug' um Aug', Zahn um Zahn

Sie goss vorsichtig den Uzo in das Schnapsglas. Als es halb voll war, füllte sie es mit der Flüssigkeit aus der kleinen Flasche auf. Sie schnupperte. Der Anisgeruch war immer noch durchdringend. Mit geübten Bewegungen deckte sie den Esstisch ein.
Dann ging sie in die Küche, um ihrer Mutter die Schüssel abzunehmen. Sie weigerte sich, die Terrine mit dem Kaninchenbraten zu tragen.
Felix war ihr Trost gewesen, wenn die Schmerzen nach Vaters Schlägen unerträglich waren. Er hatte ihr Gesellschaft geleistet, wenn sie nicht zu Partys ihrer Freunde durfte. Nun war er der Sonntagsbraten.
Aus ihrem Herz war das Blut genauso getropft wie aus Felix Hals, als ihm ihr Vater den Kopf abgehakt hatte.
Die Familie setzte sich und sprach das Tischgebet. Die Stimme des Mädchens war leise und dünn wie die ihrer Mutter. Aber es war egal, ihr Vater überdröhnte sie sowieso.
Dann füllte die Mutter ihrem Mann den Teller. Anschließend bediente sie sich selbst. Sie reichte den Schöpflöffel an ihre Tochter. Diese nahm sich Knödel und Kraut.
„Iss das Fleisch.“
Ihr Vater sagte es beinahe beiläufig, wohl wissend, dass ihm gehorcht wurde. Doch sie rührte sich nicht.
„Ich habe gesagt, du sollst dir das Fleisch nehmen.“
Sie sah nicht auf, wagte aber auch nicht, den Knödel in ihren Mund zu stecken.
„Bitte Kind, nimm dir wenigstens ein bisschen. Es ist ja schon tot.“
Sie sah ihre Mutter mit Verachtung an. Er war tot. Felix. Ihr Freund. Ihr einziger Freund. Das Flehen ihrer Mama ließ sie kalt.
Die Frauen zuckten zusammen. Ihr Vater war aufgesprungen. Das Geschirr sprang in die Höhe, als er auf den Tisch trommelte.
„Du isst jetzt den verdammten Hasen, oder du kannst was erleben.“
Sie hörte ihre Mutter wimmern. Fünfzehn Jahre lang war das die einzige Reaktion. Nie hatte sie sich zwischen den Berserker und ihr Kind gestellt.
Sie hatte ihm nicht einmal gedroht, ihn zu verlassen. Warum auch. Hier hatte sie außer dem Haushalt nichts zu tun. Und der Mann verdiente ausgezeichnet.
Das Mädchen hätte auf den Reichtum gerne verzichtet.
Der Vater brüllte weiter. „Du nimmst jetzt diese verdammte Kelle, sonst nehme ich sie.“
Ihr war klar, dass er ihr damit nicht den Teller füllen würde. Dennoch sah sie ihm in die Augen und sagte mit fester Stimme: „Ich werde Felix nicht essen.“
„Hör mit diesem Scheiß auf. Das ist ein verdammtes Karnickel, die sind zum Essen da. Hol dir halt ein neues, wenn du noch so ein Baby bist.“
Fasziniert sah sie zu, wie sein Kopf immer röter wurde. Das leere Uzo-Glas schien zu zwinkern. Der Vater versuchte, auf den Tisch zu schlagen, aber er stürzte nach vorne und konnte sich nur mit Mühe abstützen. Sein Atem ging stoßweise und er japste.
Er griff sich an sein Herz und brach dann auf dem Tisch zusammen.
Sie sah dem kleinen Soßenrinnsal zu, das von der umgestoßenen Sauciere auf den Boden tropfte.
Ihre Mutter sprang auf und rüttelte hysterisch an ihrem Mann. „Sag doch was. Bitte, sag etwas.“
Sie sah flehentlich zu ihrer Tochter hinüber.
Doch diese schob sich ungerührt die Gabel in den Mund und verspeiste den Knödel.
Die Mutter tippelte von einem Bein auf das andere, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Wimmernd strich sie ihrem Mann über den Kopf.
Die Tochter aß noch einen Bissen und stand dann auf. Nur gut, dass sie selbst nie erste Hilfe benötigt hatte. Und dass im Garten der alten Nachbarin genug Fingerhut wuchs.
Sie ließ ihre jammernde Mutter alleine und lief zum Tierheim.

Ich hoffe, sie hat dir gefallen. Ich würde dich über deine Meinung in den Kommentaren freuen, schließlich soll es bald wieder eine neue Kurzgeschichte geben.

Falls du mehr von mir lesen willst, hier geht es zu meinem Roman „Das Frühlingsfenster“.

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